Elke Suhr

Maria und das Auto oder Fahrt ins Blaue
Vortrag und Aktion 1997 - 2004

12 Menschen sind gestern um 1.20 Uhr bei einem Busunfall auf der Wandsbeker Chaussee in Eilbek verletzt worden.
Der Busfahrer (56) musste vor der Haltestelle in Höhe Ritterstraße bremsen, mitten im fließenden Verkehr. Denn auf der Haltestelle stand ein Nissan, versperrte alles. Für einen Trucker hinter dem Bus kam das Manöver zu schnell. "Trotz geringer Geschwindigkeit konnte er nicht mehr bremsen und fuhr mit seinem Laster auf den Bus auf", sagte Polizeisprecher Burkhard Rosenberg. Kettenreaktion: Der Bus rammte einen Citroen, der gerade ausparkte. Der Mann hatte beim Crash einen Kreislaufzusammenbruch erlitten, kam ins Krankenhaus. Auch eine schwangere Passagierin (27) wurde dort durchgecheckt.  Ein Kind (5) musste mit leichten Schnittverletzungen durch Glassplitter behandelt werden.
Großalarm für die Feuerwehr - sie schickte diverse Rettungskräfte für elf leichtverletzte Fahrgäste, für den Busfahrer sogar ein Notarztteam
M P. 11, 5. 2000, S. 12.

In dieser Zeitungsnotiz, ging es nicht um hohe Geschwindigkeiten, sondern um Nichtanpassung an die Grenze zwischen Stehen und Fahren.
Der eine steht, der andere beginnt gerade, sich zu bewegen, der dritte verlangsamt, aber sein Zielort wird schon von einem anderen Autokörper eingenommen. Wir brauchen kein illustrierendes Foto, das Bild im Kopf ist ganz schnell entwickelt. Trucker, Bus, Nissan, Citroen- zwei große, zwei kleine Autokörper, unterschiedliche Schubkraft, unterschiedliche Bremsverstärkung unterschiedliche Bereifung, unterschiedliche Karosserieversteifung. Bremsen, beschleunigen, parken. Was war in der Ordnung der Technik defekt? Ein Kind bekam Schnittwunden, ein Mann einen Kreislaufzusammenbruch, eine Schwangere war schockgefährdet, 11 Fahrgäste hatten leichte Verletzungen, vielleicht ein blaues Auge, ein gebrochenes Nasenbein, eine zerbrochene Brille, eine geprellte Schulter, usw. Weiche Menschenkörper waren auf harte Autokörper geprallt, harte Autos zerdrückten an noch härteren Autokörpern.  Grenzen und Widerstände machten sich bemerkbar.
Der eigentliche Eklat der Zeitungsnotiz liegt in der Bemerkung: "Mitten im fließenden Verkehr" ... Stehen, wenn alle fahren.
Heinrich Herz hat in seinen Prinzipien der Mechanik dazu eine explizite Formulierung gegeben. Alles naturwissenschaftliche Denken, alle physikalische Begriffs- und Theorienbildung bestehe in einem symbolischen Grundakt: Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, dass die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien der naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. 1

So lässt sich die These wagen, die am Busunfall beteiligten Personen seien an den Grenzen ihrer inneren Bilder verletzt worden, die sie sich im Land der Geschwindigkeit gedacht hatten. Voraussetzung dieser These ist die Annahme, dass mit der o.a. Formulierung menschliche Begriffsbildung in Folge sinnlicher Reize auch für alltägliche Situationen beschrieben wurde. Es geht in diesem Beispiel aus dem Straßenverkehr um Bildmuster, Handlungsmuster, die aus Vorstellungen und den damit zusammenhängenden Denkmustern individuell abgeleitet wurden.

Für den Begriff "Bild" beziehe ich mich auf Christian Doelkers Buch: "Ein Bild ist mehr als ein Bild".2  Er listet dort unterschiedliche Funktionen des Bildes auf. Einer davon, dem Spurenbild, billigt er indexikalische Funktion zu, welche metexis, also Teilnahme am "Ereignis" ermöglicht. Das Bild gewinne gesteigerten Wert, wenn es viel vom geschätzten Ereignis berichtet, also nicht nur perfekte Selbstreferentialität vorweist, es sei denn, diese sei in einem übergeordneten Sinn symptomatisch gemeint. "Der Begriff metexis geht auf Platon zurück. Er meint damit, daß man durch den Anblick der Dinge nicht zu den Ideen selber vordringen, wohl aber an ihnen teilhaben könne." (a.a.O.)
Wenn wir davon ausgehen, dass das "Ereignis" im Sinne von H. Herz Ergebnis eines Denkinhaltes ist, dann wäre Chr. Doelkers Spurenbild die Erscheinung einer Theoriebildung, die im Reflex auf äußere Gegebenheiten in angenommener Notwendigkeit gefolgert wurde. Als Betrachter nähmen wir Teil am Ereignis dieser Orientierung.



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1) Heinrich Herz: Die Prinzipien der Mechanik, in neuem Zusammenhang dargestellt. Leipzig 1804, S.1
2) Christian Doelker: Ein Bild ist mehr als ein Bild. S.40, Klett und Cotta
3. Aufl. 2002, Pappe 205 Seiten, ISBN: 978-3-608-91654-6.