Bildbeschreibungen loben üblicherweise in Raffaels Bild, die klare Form, die innige Situation, und Ähnliches.
In einem Werk, das so lange nach seiner Entstehungszeit noch betrachtet wird, muss noch mehr sein, etwas, das im Denken, Glauben und Erkennen der Zeit in einer Ebene verankert ist, an die wir heute noch anknüpfen können, weil sie die Zeit überdauert, eben ein anscheinend notwendiges Denkmuster ist. Durch die Kunstgeschichte überliefert durch den Wertekanon des christlichen Abendlandes gerechtfertigt, ist etwas zu spüren, das eine Ordnung anbietet, die die Situation des dargestellten, gleichsam natürlichen "Ereignisses" ins allgemeingültige Denkmuster überhöht.

Um dieser Ebene vor, in oder hinter Raffaels Werk näher zu kommen, sei jetzt das Kosmosschema4 näher betrachtet. Dieses Schema ist nur wenige Jahre vor Raffaels Bild gezeichnet worden. Es ist nur demjenigen verständlich, der der lateinischen Sprache mächtig ist und sagt mit seiner formalen Ordnung nur insofern etwas aus, wenn geometrische Formen auf Zahlen zurückgeführt werden können. (z.B. Quadrat = 4) Insofern ist dieses Kosmosschema nur Gebildeten lesbar gewesen. Raffaels Bild öffnet Wesentliches dieser hermetische Botschaft dem, der auf Offensichtliches angewiesen ist.

Die Zeichnung zeigt ein anthropozentrisches Weltbild: In einer senkrechten Achse überlagern sich Kreise, Dreiecke und ein Viereck. In der Mitte des Dreiecks gibt es einen kleinen Kreis, in welchem das Wort HOMO  (= Mensch) zu erkennen ist. Mitten durch den kleinen Kreis geht eine Teilungslinie. Eine Hälfte des Kreises gehört zum nach oben weisenden Teil-Dreieck, das mit
"Himmel" beschriftet ist, die andere Hälfte zum nach unten weisenden Teil-Dreieck, das mit "Luft" identifiziert wird. Nach oben schließen sich Zeichen an, die das "Himmlische" intensivieren, nach unten differenzieren sich die Begriffe für die Materie.  Ganz unten sehen wir malum(das Böse).

Wenn wir beide Werke verbinden, wenn wir dieses Schema unter das Madonnenbild legen, ergeben sich überraschende Koinzidenzien.
Hier die auffälligsten Beispiele: Die durch den kleinen Kreis HOMO führende Trennungslinie, die zugleich die Dreiecke für "Himmel" und "Luft" trennt, liegt genau auf Marias Gürtel, der ihren Oberkörper und Kopf von Unterleib abriegelt. Die Kinder stehen jeweils in einem der Dreiecke: dem rechts unten "Wasser" (Christus) bzw. dem links unten "Erde" (Johannes). Da, wo an der Grenze der zentralen
Dreiecke mit der jeweiligen Bezeichnung für die drei Elemente "Erde", 
"Luft" und "Wasser", nämlich die Worte "Steine", "Pflanze" und "Metall" zusammenstoßen, gibt Johannes dem Jesus den kleinen Seelen-Vogel als Verkündigung der bevorstehenden Passion - nämlich der Verwandlung aller Werte, der Verwandlung des Einen in das Andere des Einen.

Der blaue Mantel der Maria entspricht ungefähr dem Verlauf des großen Dreiecks, das am Haaransatz der Maria unterhalb des Himmelblaus beginnt bzw. endet. Der Mantel breitet sich nach unten aus und stimmt ungefähr mit der Basislinie des großen Dreiecks überein, das dieses vom nur zur Hälfte sichtbaren Viereck am unteren Bildrand abgrenzt.

Kombination Suhr
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4a) Elke Suhr: Methodische Bildbetrachtung zu Raffaels Madonna del Cardellino, 1999